Projektinhalt

Der Demografische Wandel und seine Auswirkungen auf Arbeitsmarkt und Beschäftigung haben in allerjüngster Zeit im Zusammenhang mit der Debatte um die „Rente mit 67“ hohe politische und öffentliche Aufmerksamkeit erhalten. Stand der sozialwissenschaftlichen Forschung ist, dass die vorgesehene Verlängerung der Lebensarbeitszeit lernförderliche und Gesundheit erhaltende betriebliche Arbeitsbedingungen voraussetzt, die einen längeren Verbleib in der Erwerbstätigkeit überhaupt ermöglichen. Ansonsten ist mit einer Zunahme an Leistungs  und Tätigkeitseinschränkungen älterer Mitarbeiter zu rechnen, die den physischen und/oder psychischen Belastungen der Arbeit (Stichwort Leistungsverdichtung) nicht mehr standhalten können oder aber die Qualifikations- und Kompetenzanforderungen ihrer Arbeitsplätze nicht mehr erfüllen. Ebenfalls Stand der Forschung ist, dass trotz vielfältiger Gestaltungsempfehlungen und innovativer Ansätze hinsichtlich einer nachhaltigen Politik des Umgangs mit der demografischen Alterung in der Breite vergleichsweise wenig Durchschlagendes geschieht - sowohl auf Ebene von Betrieben und Unternehmen, aber auch auf tarifpolitischer Ebene.

Auf dem Hintergrund dieses Forschungs- und Debattenstands untersuchte das von der „Initiative Neue Qualität der Arbeit“ (INQA) geförderte Projekt „Potenziale einer alters- und alternsgerechten Betriebs- und Tarifpolitik“, welches vom Lehrstuhl „Politisches System der BRD   Staatlichkeit im Wandel“ der Universität Kassel und dem SOFI gemeinsam durchgeführt wurde, in den Jahren 2009 und 2010 die branchenspezifische Relevanz des „Demografieproblems“ in der Chemie- und Pharmaindustrie, in der Metall- und Elektroindustrie (M&E) und im Einzelhandel. Ziel unseres Projekts war es, Genaueres über (Einflussfaktoren auf) die Verbreitung (oder Nicht-Verbreitung) von Gestaltungsmaßnahmen einer alter(n)sgerechten Arbeits- und Personalpolitik in den Betrieben dieser drei Branchen zu erfahren. Angesichts der vor Beginn des Projekts an Intensität gewinnenden tarifpolitischen Debatte und gerade abgeschlossener neuer Tarifverträge in der Eisen- und Stahlindustrie und der Chemieindustrie – aber auch angesichts der Rezession von 2007ff. – sollten auch die Perspektiven für vergleichbare „Demografietarifverträge“ in M&E und im Einzelhandel sowie ggf. deren Verallgemeinerungsfähigkeit ausgelotet werden.

Methodisch kombinierte das Projekt quantitative und qualitative Analysen. Was die quantitativen Analysen anbetrifft, wurden zum einen die wichtigsten verfügbaren Datenquellen auf der Individual- und Betriebsebene, die hierzulande Aussagen im Themenfeld geben können, branchenspezifischen Auswertungen unterzogen: BIBB/BAuA-Erwerbstätigenbefragung 2006; CVTS3-Zusatzerhebung des BIBB aus dem Jahr 2008; mehrere Wellen des IAB-Betriebspanels bis 2006; DGB-Index „Gute Arbeit“ 2009. Zum anderen wurde eine eigene standardisierte Befragung von Personalleitungen/Geschäftsführungen sowie Betriebsräten durchgeführt. Insgesamt wurden 4.500 Betriebe mit mehr als 5 Beschäftigten (dort jeweils Geschäfts- und Personalleitungen einerseits, Betriebsräte andererseits) auf der Grundlage einer repräsentativen Adressziehung der Bundesagentur für Arbeit angeschrieben und um Teilnahme an einer Online-Befragung gebeten. Um die Ausschöpfung zu erhöhen, wurden CATI-gestützte Telefoninterviews „nachgeschoben“. Insgesamt konnten 474 Befragungen von Geschäfts- und Personalleitungen und von 311 Betriebsräten auswertet werden. In einem qualitativen empirischen Zugriff führten wir elf betriebliche Kurzfallstudien durch, bei denen wir insgesamt 42 Expertinnen und Experten, vor allem aus Personalleitung und Betriebsrat, interviewten. Hinzu kamen Auswertungen von Firmenunterlagen. Auf Branchen- und Verbandsebene (Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände) führten wir insgesamt zwölf Experteninterviews; hinzu kam die Auswertung von Verbandsstellungnahmen und Tarifverträgen.

Die Projektergebnisse zeigen


(1)    dass sich die Mehrzahl der Betriebe in der Metall  und Elektroindustrie, in der Chemie- und Pharmaindustrie und im Einzelhandel gegenwärtig noch nicht gravierend vom demografischen Wandel betroffen sieht;


(2)    dass der demografische Wandel vor allem zukünftig an Relevanz in den Betrieben gewinnen wird. In welchem Umfang und in welcher Form dies geschieht, ist zwischen den Branchen unterschiedlich ausgeprägt.


(3)    dass gezielte Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen Älterer (50+) in den Betrieben der deutschen Metall  und Elektroindustrie, der Chemie  und Pharmaindustrie und des Einzelhandels nach wie vor eher wenig verbreitet sind. Während dies für das Feld der Weiterbildung seit längerem bekannt und auch durch unsere Untersuchung bestätigt wird, betrifft dies auch andere wichtige Handlungsfelder, wie z.B. Gesundheitsförderung, Ergonomie und Arbeits(zeit)organisation. In Bezug auf alternsgerechte Ansätze und Maßnahmen sieht das Bild nicht ganz so düster aus, auch wenn wichtige Felder (Gesundheit, Work-life-balance) auch hier deutlich unterentwickelt sind. Jedoch könnte eine alternsgerechte Arbeits- und Betriebspolitik damit auf einen gewissen Sockel arbeits- und personalpolitischer Maßnahmen aufsetzen.


(4)    dass die Lücke zwischen Problematisierungs- und Debattenrealität und der Wirklichkeit praktischen betrieblichen Handelns unseres Erachtens zu einem Gutteil Resultat betrieblicher Strategien der Arbeitskraftnutzung ist, bei denen eine langfristig angelegte Entwicklung und Pflege der „Humanressourcen“ nach wie vor von nachrangiger Bedeutung ist. Ebenso wichtig ist aber der Sachverhalt, dass die proklamierte Zielstellung einer „neuen“ Demografieorientierung für alle Beteiligten einen arbeits-, personal- und tarifpolitischen Paradigmenwechsel erfordert, der gegenwärtig erst in Ansätzen erkennbar ist.


(5)    dass man die Potenziale eines demografieorientierten „Mainstreaming“ von Tarifpolitik eher skeptisch beurteilen muss. Klar ist: Tarifpolitik allein kann die Probleme im Zusammenhang mit Fragen von Alter und Altern in Erwerbstätigkeit nicht lösen. Der Demografiediskurs auf gesellschaftlicher, tarifpolitischer und betrieblicher Ebene bietet aber die Möglichkeit, Fragen humanerer Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen erneut auf die Agenda zu setzen.

 

Ansprechpartner: 

Dr. Knut Tullius  knut.tullius[at]sofi.uni-goettingen.de   0551-5220511