Warum soeb?

In Wissenschaft, Politik und Gesellschaft ist das Bewusstsein verbreitet, dass sich Deutschland in einer Umbruchsituation befindet. Üblicherweise werden dafür große gesellschaftliche Trends verantwortlich gemacht, etwa Globalisierung, der Übergang zur Dienstleistungs- oder Wissensgesellschaft, Informatisierung oder Individualisierung. Damit ist aber noch nicht viel erklärt: diese Trends wirken global, brechen sich aber in verschiedenen Gesellschaften auf ganz unterschiedliche Weise. Zudem betrachten solche Zeitdiagnosen einzelne Momente des gesellschaftlichen Wandels isoliert, während aber davon auszugehen ist, dass ein bestimmter gesellschaftlicher Kontext gerade durch das Zusammenwirken mehrerer Phänomene geprägt wird. Ferner kommt es auf den konkreten Gegenstand der Betrachtung an, was Ursache ist und was Folge.

Der Forschungsverbund zur sozioökonomischen Entwicklung beobachtet die Entwicklung der letzten Jahrzehnte als Umbruch des deutschen Produktions- und Sozialmodells. Damit ist gemeint: Das Zusammenspiel von Wirtschaft und Gesellschaft, der verschiedenen Wohlfahrtsproduzenten und der Institutionen folgt nicht mehr dem Muster, das die gesellschaftliche Entwicklung der „alten“ Bundesrepublik geprägt hat. Wirtschafts- und Lebensweise ändern sich gleichzeitig und jeweils eigensinnig, sind dabei aber auch aufeinander bezogen. Die Gesellschaft als Ganzes bringt – wie ein einzelner Haushalt – ökonomische Motive und individuelle Bedürfnisse und Lebensziele mehr oder weniger gut in Einklang. Deshalb beobachtet und versteht soeb die Gesellschaft als sozioökonomischen Entwicklungszusammenhang. Es stellen sich Fragen wie diese: Wie wirkt sich eine veränderte Arbeitswelt auf die Möglichkeiten aus, Familie und Erwerbstätigkeit miteinander zu vereinbaren? Welche Anforderungen stellen sich zukünftig für die Bildungs-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, wenn sich der internationale Wettbewerb verschärft, und welche Folgen hat dies für Wohlstand und Sicherheit der Gesellschaft?

Die Gesellschaft im Umbruch ist vielfältiger geworden: Neben normprägende „Standards“ wie Normalarbeitsverhältnis, Normalarbeitszeit, Normalfamilie und Normalbiografie treten neue Arbeits- und Lebensweisen. Diese Zunahme an Vielfalt kann neue Chancen eröffnen; sie kann aber auch mit vermehrter Ungleichheit einhergehen und Gruppen ausgrenzen, die an der neuen Vielfalt nicht teilhaben können. Was davon zutrifft, lässt sich nur beantworten, wenn der Wandel der Ökonomie und der Lebensweisen im Einzelnen und in ihrem Zusammenhang betrachtet werden. Wenn man die Annahme eines gesellschaftlichen Umbruchs unterstellt, hat das Folgen für die Beobachtungskonzepte – sozialwissenschaftliche Berichterstattung kann alt vertraute Annahmen über Abhängigkeiten und Wirkungszusammenhänge zwischen Wirtschafts- und Lebensweise nicht einfach fortschreiben.

Was heißt "sozioökonomisch"?

Versteht man Gesellschaft als sozioökonomischen Entwicklungszusammenhang, so sind Lebensweisen nicht bloß passives Ergebnis einer alles bestimmenden Ökonomie. Denn die wirtschaftliche Entwicklung ist gesellschaftlich eingebettet: Soziale Verhältnisse, politische Regulierungen, Institutionen sind nicht nur Resultate der Ökonomie, sondern sie haben ihre eigene Bedeutung. Wie der Alltag der Menschen aussieht und wie ihre alltäglichen Entscheidungen ausfallen ist nicht einfach nachgeordnetes Ergebnis „großer“ wirtschaftlicher Entwicklungen oder politischer Maßnahmen. Innovationen, Investitionen und Unternehmensstrategien treiben Veränderungen der Gesellschaft von der ökonomischen Seite an. Aber auch von Veränderungen der Lebensweise können Impulse ausgehen, die Anpassungen seitens des ökonomischen Systems provozieren. Beide Seiten entwickeln sich in Abhängigkeit voneinander, aber nach relativ autonomen Logiken. Subjektive Interessen und Motive gesellschaftlicher Akteure liefern wesentliche Antriebskräfte für die sozioökonomische Entwicklung. Die Attribute „ökonomisch“ und „sozial“ bezeichnen dabei nicht getrennte Beobachtungsbereiche, sondern verschiedene Perspektiven auf die gleichen Gegenstände. So ist Erwerbsarbeit doppelt bestimmt: Sie gehört sowohl dem ökonomischen System als auch der Lebensweise an, und nicht nur Betriebe stellen Ansprüche an die Nutzung von Arbeitskraft, auch Arbeitende haben Ansprüche an Qualität und Gestaltung des Arbeitsprozesses. Betriebe sind nicht nur Produzenten von Waren und Dienstleistungen – sie stellen auch den elementaren gesellschaftlichen Ort dar, an dem Erwerbsarbeit organisiert wird und Beschäftigte in ein Sozialgefüge integriert werden. Sie sind zugleich die zentrale Instanz, die Individuen zum Arbeitsmarkt und zu den Systemen der sozialen Sicherung in Beziehung setzt. Entscheidungen über Erwerbskonstellation und Arbeitsteilung (‚Arbeit'), über Reproduktion, Bildungserwerb, Informationsgebrauch und Konsumverhalten (‚Lebensweise') fallen im Haushalt – also außerhalb der Unternehmen, aber in Reaktion auf ökonomische Gegebenheiten, unter Berücksichtigung ökonomischer Kalküle und mit Konsequenzen für die individuelle Teilhabe wie für die Gesamtwirtschaft. Konsum schließlich ist zugleich ökonomische Nachfrage und alltägliche Lebensführung.

Denken im Modell

Der Forschungsverbund kann sich in seiner Arbeit nicht auf eine systematisch ausgeführte Theorie sozioökonomischer Entwicklung stützen und strebt auch keine vollständige theoretische Integration im Sinne eines "Systems" an. Beobachtungsdimensionen und Indikatoren sind vielmehr so zu wählen, dass der Bericht unabhängig von theoretischen Standpunkten für viele Anwenderinnen und Anwender nützlich sein kann. Hierzu ist es notwendig, sich mit Theorieansätzen auseinanderzusetzen, die Gesellschaft als sozioökonomischen Entwicklungszusammenhang auffassen und die ihrerseits Besonderheiten des "deutschen Modells" zu erklären versuchen.

Auch politische Diskurse sind unter der Fragestellung zu verfolgen, an welchen Maßstäben das politische System die sozioökonomische Entwicklung misst und mit welchen Indikatoren es sie zu beobachten versucht. Besonderes Augenmerk gilt dabei der weiteren Strategiebildung der europäischen Union im Anschluss an die Lissabon-Strategie zur Modernisierung und Verbesserung des europäischen Sozialmodells sowie Nachhaltigkeitsstrategien für Deutschland und die Europäische Union.

Um Befunde aus verschiedenen Gegenstandsbereichen zu integrieren, benötigt der sozioökonomische Berichtsansatz theoretische Modellannahmen. Produktionsmodelle, die mikroanalytisch auf Ebene des Betriebs oder Unternehmens zu beobachten sind, stehen für einen typischen Zusammenhang von markt- bzw. geschäftspolitischen Strategien von Unternehmen, typischen Formen der Betriebsorganisation sowie der sie rahmenden institutionellen Ordnung. Die Gesamtheit der gesellschaftlichen Institutionen und Regulierungen dagegen, die eine Gesellschaft in die Lage versetzen, unter Bedingungen einer Marktökonomie „als eine durch wechselseitige Abhängigkeitsbeziehungen verbundene Gesamtheit zu existieren“ (Robert Castel), kann als Sozialmodell gelten. Das Sozialmodell, das für die Lebensführung der Haushalte den Rahmen bildet, umfasst also viel mehr als ein bestimmtes Sozialstaatsregime.

Das „Denken im Modell“ soll die Berichtsgegenstände auswählen helfen, die für eine empirisch dichte Beschreibung des Lebens unter dem gegenwärtigen Produktions- und Sozialmodell benötigt werden, und Problemfelder des Umbruchs identifizieren. So beobachtet soeb seit dem ersten Bericht (soeb 1) z.B. das Nebeneinander verschiedener Verdienermodelle des Haushalts oder sicherer und unsicherer Muster der Erwerbsbeteiligung. Verschiedene Zeitmuster für Erwerbsarbeit und andere Aktivitäten, Ungleichheit bei Erwerb und Nutzung von Bildung, das Verhältnis formeller Dienstleistungen und informeller Hausarbeit, und Formen und Muster von Engagement und Partizipation waren ebenfalls von Anfang an zentral. Die Auswahl der Beobachtungsgegenstände wurde seither erweitert, z.B. durch das Themenfeld Konsum.

Womit vergleichen?

Die Annahme, die deutsche Gesellschaft befinde sich im Umbruch, schließt zwei Vergleichsperspektiven ein:

  • Historisch wird die Gegenwart mit einer modellhaft stilisierten Vergangenheit („Modell Deutschland“, „Fordismus“) verglichen, um die Dynamik des Wandels zu verstehen. In Ostdeutschland beherrscht diese historische Vergleichsperspektive  – „vor“ und „nach der Wende“ - das gesellschaftliche Bewusstsein.
  • Die modellhafte Verdichtung des sozioökonomischen Entwicklungszusammenhangs erleichtert es, die Bundesrepublik und andere Länder in der gegenwärtigen Umbruchsphase „synchron“ zu vergleichen.

Nicht alle Elemente sozioökonomischer Entwicklung lassen sich untereinander beliebig kombinieren. Das Produktions- und Sozialmodell eines Landes entwickelt sich auf einem spezifischen - nationalstaatlichen - Entwicklungspfad, der nicht einfach verlassen werden kann. Daher koexistieren in der EU eine Vielzahl solcher Modelle, und ob sie tatsächlich zu einem „europäischen Sozialmodell“ konvergieren, ist eine offene Frage. Ostdeutschland befindet sich in einer doppelten Umbruchsituation: Die Transformation durch Beitritt erfolgte zu einem Zeitpunkt, in dem das (west-)deutsche Modell sich bereits selbst im Umbruch befand.

Daten deuten

Der sozioökonomische Berichtsansatz stützt sich auf verschiedene Datensätze aus den amtlichen Bevölkerungsumfragen und aus prozessproduzierten Verwaltungsregistern. Für die deskriptive Statistik sind sowohl Querschnitt- als auch Längsschnittdaten erforderlich. Ergänzende multivariate Analysen sind ebenso wie qualitative Empirie und historische Entwicklungslinien in die Darstellung zu integrieren. Zum methodischen Profil des sozioökonomischen Berichtsansatzes gehört, dass Ergebnissen qualitativer Forschung größerer Raum gegeben wird, als das bisher üblich ist. Direkte Kontakte und eine verbesserte Kooperation zwischen den bearbeitenden Wissenschaftlern, die ein Interesse an bestimmten Datenzugängen haben, und Datenhaltern der amtlichen und wissenschaftlichen Statistik, die ihre Datenbestände besser genutzt und für wissenschaftliche Analysen erschlossen sehen wollen, dürften zur Verbreiterung der Datenbasis für die Berichterstattung beitragen. Zwischen dem sozioökonomischen Berichtsansatz und anderen, insbesondere spezialisierten Berichtssystemen sind wechselseitige Kommentierungen von Ergebnissen sowie Kooperationen bei der Operationalisierung von Konzepten und Indikatoren in Überschneidungsbereichen und bei der Nutzung von Datensätzen denkbar und wünschenswert. Ausgewertete Daten sprechen nicht für sich selbst. Sie sollen daher in einem theoretisch begründeten Modellzusammenhang zusammengeführt und in sozioökonomischen Zustandsbeschreibungen deutend interpretiert werden.

Bessere Daten – bessere Politik?

Die sozioökonomische Berichterstattung soll zugleich zur gesellschaftlichen Selbstaufklärung und zur Politikberatung beitragen. Die politikberatende Funktion unabhängiger wissenschaftlicher Beobachtung kann allerdings nicht darin bestehen, unmittelbar Empfehlungen abzugeben und Wirkungen politischer Maßnahmen zu kontrollieren. „Bessere Daten“ führen nicht automatisch zu „besserer Politik“. Wissenschaftsgestützte Berichterstattung kann nicht so kurzfristig sicheres Wissen verfügbar machen, wie es für rational begründete politische Programme erforderlich wäre. Befunde der Berichterstattung können aber politische Interventionsbedarfe anzeigen, d.h. Probleme und Herausforderungen für politische Gestaltung identifizieren und so die Gestaltung politischer Agenden beeinflussen. Damit sie so genutzt werden, muss der Forschungsverbund Diskurse und programmatische Leitvorstellungen aus dem politischen Raum aufgreifen und seine Befunde auf politische Fragestellungen beziehen.

Sozioökonomische Berichterstattung benötigt normative Bewertungsmaßstäbe für ein komplexes System aus ökonomischen und sozialen Zielen. Da Bewertungskriterien nicht nur wissenschaftlich geeignet, sondern auch gesellschaftlich akzeptiert sein müssen, gehört die kritische Auseinandersetzung mit der Programmatik der Europäischen Union zur „Modernisierung und Verbesserung des europäischen Sozialmodells“ und mit Nachhaltigkeitsstrategien zu den Aufgaben des Forschungsverbunds. Leitkonzept ist dabei gesellschaftliche Teilhabe in ihren verschiedenen Formen: durch Arbeit, durch soziale Nahbeziehungen, durch bürgerliche, politische und soziale Rechte sowie durch Bildung und Kultur. Die Berichterstattung soll die Frage beantworten, ob die Gesellschaft im Umbruch „alle mitnimmt“ oder ob Gruppen auf der Strecke bleiben.

Teilhabe

Die sozioökonomische Berichterstattung bedarf eines normativen Bewertungsmaßstabs für gesellschaftliche Entwicklung auf der Mikroebene von Personen und Haushalten. Was Teilhabe ausmacht und wie man sie messen könnte, ist daher eine integrierende Fragestellung des Berichts. Ein solcher Bewertungsmaßstab soll aus einer kritischen Aneignung ausgewählter Ansätze gewonnen werden: der deutschen Forschungstradition zur Lebenslage, des international verwendeten "Capabilities"-Konzepts von Amartya Sen und der Ansätze zu sozialer Ausgrenzung und Gefährdung. Die verschiedenen Theorieansätze treffen sich in der Frage, wie ökonomische, sozialstaatliche und persönliche Ressourcen von Individuen und Haushalten zur Verwirklichung einer individuell gewünschten und gesellschaftlich möglichen Lebensweise genutzt werden können und welchen Handlungsspielraum die Subjekte dabei haben.